17.11.2012

MEINE MUTTER (2004)

Pierre wächst bei seinen Großeltern auf. Für zwei Monate besucht er seine Eltern, die auf einer spanischen Insel hausen. Der Vater, den der Junge nicht sonderlich leiden kann, stirbt. Zurück bleibt Mama Hélène, die ihrem Sohn ihre wahre Natur offenbart. Sie ist eine Prostituierte aus Leidenschaft. Mit Hilfe ihrer Partnerin Réa, die etwa in Pierres Alter ist, will sie dem Sohn seine Ernsthaftigkeit nehmen. Der Teenager soll anfangen das Leben zu genießen. Und so wird Pierre Teil ihrer bizarren Welt, in welcher es keinerlei sexuelle Tabus gibt, außer vielleicht zwischen Mutter und Sohn. Als selbst für Hélène der Moment gekommen ist, in dem alles zu weit geht, reist sie ab. Freundin und Kollegin Hansi soll sich fortan um Pierre kümmern...

Begehren, Trieb, Ernüchterung...
 
Ein Jugendlicher, der in die Sexualität eingeführt wird, das klingt nach einem Jugend-Drama, einem Genre für das Frankreich schon so manchen großen Film geschaffen hat (z.B. „Lärm und Wut“, „Das Jahr des Erwachens“, „Die kleine Diebin“, ...). Doch nicht erst der ödipale Aspekt des Themas trennt „Meine Mutter“ von diesem Sub-Genre trotz Jugendlichem im Zentrum. Der Tabubrecher, der in seinem Namen an den ebenfalls mit Sexualität im Mittelpunkt stehenden „Meine Schwester“ erinnert, mit dem allerdings nichts weiter gemein hat, ist viel mehr ein Psycho-Drama. Die Mutter und ihre ungewöhnliche Persönlichkeit steht ebenso im Mittelpunkt (auch wenn sie weniger Screentime beschert bekommt als der Sohnemann), und der Bereich Sexualität wird eben nicht durch sein Erwachen thematisiert, sondern durch seine Förderung.

Wo andere Eltern ihre Kinder vor Bösem beschützen wollen, da wird Pierre von seiner Mutter in eine Welt geschuppst, welche die meisten Menschen wenn nicht böse, dann immerhin als fragwürdig empfinden. Spätestens zwischen Mutter und Sohn sollte es mehr Distanz geben, und das nicht erst wenn sie sich körperlich nähern, sondern schon bereits wenn Frau Mama zum Voyeur wird, wenn ihre Partnerin es mit ihrem Sohn auf offener Straße treibt.

Freidenker mögen damit sympathisieren, dass Hélène ihren Sohn lehrt, dass es keine Tabus gibt, und er seine Sexualität somit in vollen Zügen grenzenfrei genießen kann. Doch so ganz glücklich scheint keine der Figuren zu sein. Alle zelebrieren sie tabulosen Geschlechtsverkehr, ob Gruppensex, sadomasochistische Praktiken, Homosexualität, und anderes. Und doch wirkt ihr Treiben lediglich ernüchternd. Regisseur Honoré, der in seinem Film keinen klaren Standpunkt aufblitzen lässt, schafft keine erotischen Bilder. Was der Zuschauer zu sehen bekommt ist nicht prickelnd oder sexuell anregend, sondern viel eher verstörend.

Er schuppst den Zuschauer in eine Welt Andersdenkender hinein, deren Rituale man als alternativen Lebensstil akzeptieren kann. Was man jedoch nicht tolerieren möchte, ist der Umgang mit Pierre, einem Jungen dessen Sexualität ohnehin verwirrt ist, und der im Meer an Obszönitäten völlig überfordert wird seine eigenen Wünsche herauszufinden. Berauscht von den Möglichkeiten der Lust erwacht in ihm ein völlig neuer Charakter, aber einer, der in der Schnelllebigkeit geboren wurde und dabei nicht er selbst ist. Pierre liebte seine Mutter zu Beginn, aber wäre seine Liebe auch so weit gegangen ohne Mamas Nachhilfeunterricht in Sexualität? Eine Frage, die der Film nicht zu beantworten weiß.

Allerdings beantwortet er ohnehin recht wenig. Er lässt den Zuschauer an einer den meisten Betrachtern fremden Subkultur teilnehmen, und was die ganze Geschichte soll, wird nicht so ganz klar. Honorès Hauptanliegen war es wohl den Zuschauer mit extremen Tabubrüchen zu schocken. Das macht er inhaltlich mit bereits erwähnten Themengebieten, aber auch optisch, indem er immer wieder Möglichkeiten sucht und findet die sonst ausgeblendeten Geschlechtsorgane von Schauspielern einzufangen, selbst dann wenn der Protagonist auf Sexheftchen uriniert.

Diese oft zu bemühten Provokationen hätte „Meine Mutter“ jedoch gar nicht nötig gehabt. Vielmehr bremsen sie den Film, auch wenn sie kurzfristig Aufmerksamkeit wecken. Sie bremsen aber scheinbar auch Regisseur Honoré, der es vor lauter Tabubrüche nicht schafft, seine Geschichte halbwegs glaubhaft umzusetzen. Unter welcher Motivation Pierre das anfangs alles mitmachen soll, bleibt unbeantwortet und wirkt dadurch fehlerhaft. Warum er selbst räumlich von seiner Mutter losgelöst mit Hansi das Extreme sucht und warum sich sein Charakter so schnell wandelt, wird zwar durch nähere Beschäftigung mit der Geschichte deutlich, das Vollkommene Verstummen einer Antwort zu diesen Fragen lässt den Film aber unsinnig und lückenhaft wirken, weswegen sich wohl nur die wenigsten mit der Suche nach diesen Antworten beschäftigen werden.

Dabei ist es genau das Unausgesprochene des Films, der ihm seinen Reiz verleiht, einen Reiz der verwässert wird durch die viel zu deutlichen Bilder und dem ewigen Drang Honorés noch einen Tabubruch draufzusetzen. Seine Bilder sind oft nah an der Pornographie, das mag ein Publikum locken, aber wohl kaum das richtige, wo die Stärke des Films doch in seiner Psychologie liegen, einem Bereich der jedoch nur halb funktionieren kann, wenn man wichtige Aspekte den quantitativen Nichtigkeiten opfert.

Das Verlorensein der Menschen in ihrer sich selbst glücklich eingeredeten Welt, der verlorene Pierre, der wohl niemals vollkommen aus dem Meer an Perversionen hinaustreten kann und für immer ein gestörtes Verhältnis zur Sexualität haben wird, die Mutter, die plötzlich doch noch Grenzen erkennt, Grenzen die ihr Verlangen dennoch überschreiten möchte, all das sind Themengebiete, die „Meine Mutter“ so intensiv gucken lassen. Das sind Themengebiete, die dem Film Klasse verleihen, Klasse die er leider an anderer Stelle wieder verliert. Die peinliche Schluss-Provokation, die den Film vollends ins Lächerliche zieht, verwässert diese gute Rezeptur nun vollends. Zurück bleibt der Voyeur, nicht aber der geschichteninteressierte Zuschauer, dem es Spaß macht eine solch undurchsichtige, auf dem ersten Blick schlichte Story, zu analysieren.

Seine Stärken schaffen es, dass Honorés Bilderflut an Provokationen nie langweilig wird. Streckenweise schafft es der Film den Zuschauer in den Bann seiner Geschichte zu ziehen. Doch dieses Aufgehen in an sich geglückter Atmosphäre ist meist von kurzer Dauer. Wo der Regisseur gegen den Zuschauer arbeitet, da müssen auf der Gegenseite die talentierten Darsteller genannt werden, die jede noch so schwierige Szene glaubhaft umgesetzt kriegen. So weit hergeholt einige Situationen auch wirken mögen, das professionelle Spiel seiner Darsteller verleiht jeder noch so konstruierten Szene eine Authentizität, die man sich im eigentlichen roten Faden der Geschichte noch viel mehr gewünscht hätte. Dann hätte auch die teilweise recht pfiffige Psychologie der Figuren und ihrer Gefühlswelten vollends aufblühen können und damit glaubhafter wirken können.  OFDb

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