13.01.2019

BLAU IST EINE WARME FARBE (2013)

Wenn es etwas gibt, dass es an Abdella Kechiches Film "Blau ist eine warme Farbe" nicht zu diskutieren gibt, dann ist dies die Tatsache wie authentisch sich das Werk guckt. Filmklischees und cineastische Alternativwahrheiten gibt es hier nicht zu entdecken, gleiches gilt für Eitelkeit von Darstellern oder Theatralik in Dramaturgie und Musikuntermalung. Das Drama um eine junge Frau, die ihre Homosexualität entdeckt, ist weder kitschig, noch übermotiviert aufklärerisch ausgefallen. Was hier passiert ist so erzählenswert wie alltäglich, so interessant wie normal und dabei völlig unaufgeregt erzählt. So wunderbar das alles geschrieben und optisch eingefangen wurde, so stark lebt es doch hauptsächlich von seinen Schauspielern, die geradezu herausgefordert werden, was sie aufgrund ihres hohen Talentes schließlich auch zu meistern wissen. Der Film geht so subtil und holzhammerartig mit den Geschehnissen um, wie es auch das Leben tut. Stille Momente wechseln sich mit ekstatischen ab, Schönheiten werden ebenso ausgeleuchtet wie Abartigkeiten. Wenn hier jemand heftig weint, dann ist auch Schnodder mit im Spiel, wenn hier jemand Sex hat, dann streift dies die Grenze des Pornografischen aufgrund wahrhaftig ausgelebter Techniken vor der Kamera. 

Dennoch wird das Drama hier wie andernorts nie rein voyeuristisch, dafür ist er viel zu empathisch ausgefallen und lässt einen auch dann hervorragend mit der Hauptfigur und ihren Lebenssituationen identifizieren, wenn man ein mittelalter heterosexueller Mann ist. "Blau ist eine warme Farbe" zeigt nicht nur das Erwachsenwerden einer jungen Frau, sondern auch die Unsicherheit und Tolpatschigkeit dieser Lebensphase, die Überforderung, den Erfolg im nicht Perfekten, das Auseinandersetzen mit Nichtigkeiten und Wichtigkeiten, das Reagieren auf Unvorbereitetes, die Konfrontation mit Ungerechtigkeiten ebenso wie Ursache und Wirkung, Verantwortung und Konsequenzen, Lustigkeiten und Trauriges, Wahrheiten und Lügen, Fehlverhalten und Solidarität, Selbstbewusstsein und Selbstlüge, kurzum das facettenreiche Spektrum an Erlebnissen und Wahrnehmungen, welches das Leben tatsächlich zu bieten hat. Es ist aufregend Adèle bei ihren Banalitäten zu begleiten, eben weil sie weder strahlender Held noch natürliches Vorzeigemädchen ist, sondern charakterlich liebenswert, wie fragürdig ist, taff wie unsicher, klug wie dämlich. Auch die Art wie Jugendliche hier miteinander diskutieren und einen im wahren Leben in der U-Bahn genervt weghören lassen, wissen hier als Motor der Authentizität zu faszinieren und interessieren. Unangenehmes wird ebenso zum Hingucker wie Angenehmes.

"La vie d'Adèle - Chapitres 1 & 2" (Originaltitel) könnte also ganz großes Kino sein, wenn nicht, wie im Originaltitel bereits erwähnt, das Ganze aus zwei Kapiteln bestehen würde, welches aus einem Stoff für zwei Filme einen einzigen mit einer Lauflänge von 173 Minuten macht. Interessanter Weise wird nicht die Länge des Streifens zum Problem, sondern die Andersartigkeit der zweiten Hälfte, der man tatsächlich einen eigenen Film gewünscht hätte. Dann könnte man als Zuschauer die dort recht häufig angewendeten Zeitsprünge besser annehmen und dem Stoff verzeihen, dass er zuvor wichtige Personen einfach nicht mehr benötigt. Man könnte aber auch besser damit umgehen, dass das zweite Kapitel weit weniger erzählenswert ist, als es das erste war. Das beweist allein schon der Zeitpunkt mit welchem der Film schließlich endet. Der Abspann scheint völlig willkürlich zu erscheinen, ein Abschluss eines speziellen Lebensabschnitts oder das Erreichen eines höheren Entwicklungslevels der Hauptfigur lässt sich nicht erkennen, höchstens die Konsequenz Emmas. Aber ob die zu diesem Zeitpunkt ignorante Adèle diese akzeptiert, um sich von nun an anderen Träumen und Wünschen hinzugeben, bleibt anzuzweifeln, so dass die Gefühlsspirale, in der sie sich befindet, wohl nicht durchbrochen wird. So holprig die zweite Hälfte, noch immer hoch authentisch erzählt, von einer Nichtigkeit zur nächsten hüpft, dabei den Trennungsschmerz einer Partnerschaft thematisierend, deren Ende Adèle nicht überwunden hat, wirkt dieser lange Anhang unnötig und nicht mehr so engagiert erzählt wie die erste Hälfte, die sich mit dem Erwachen der Homosexualität beschäftigte.

Zwar besitzt auch die zweite Filmhälfte hochgradig aufwühlende Momente, die einen staunen lassen wie authentisch Kino tatsächlich sein kann, aber die Ziellosigkeit des dort erzählten Plots stieß mir doch etwas arg sauer auf, ist doch weder die immergleiche Gefühlsspirale der sich allein fühlenden Adèle im Laufe der Zeitsprünge auf Dauer eine erzählenswerte Geschichte, noch ihre Erlebnisse in der Arbeitswelt. Zudem hätte sie auch als Erwachsene mal auf ehemalige Mitschüler oder ihre Eltern stoßen können, gerade um den Konflikt des Restkindes in der Erwachsenenwelt besser thematisieren zu können. Die zweite Hälfte zeigt eigentlich recht lobenswert die Unreife der Protagonistin und die erstaunliche Verweigerung an diesem Zustand ernsthaft etwas Entscheidendes ändern zu wollen. So wird die Nichtweiterentwicklung, die ich an der Erzählung kritisiert habe, im Bereich der Charakterentwicklung ein faszinierender Aspekt. Da aber das Umfeld stets gleich auf dieses Verhalten reagiert ändert dies nichts an Adèles Leben oder für uns an der uns erzählten Geschichte, so dass Chapitres 2, so gut wie möglich auch erzählt, auf der Stelle tritt ohne dem Publikum das Gefühl einer erzählenswerten Geschichte zu liefern, was damit zum kompletten Gegenteil von Chapitres 1 wird.

Aufgrund der starken ersten Hälfte mag manche kritische Äußerung bezüglich der zweiten Hälfte ungerecht wirken, aber das ist es, was ich mit der Äußerung meine, dass man beiden Kapiteln einen eigenen Film hätte bieten sollen. Im direkten Zusammenhang präsentiert geht "Blau ist eine warme Farbe" einfach die Luft aus und weiß damit nach einer derart aufregend unaufgeregten Geschichte der ersten Hälfte zu enttäuschen. Auf zwei Filme aufgeteilt würde man sich sicherlich mehr für die Nichtigkeiten der Erwachsenenwelt in der nicht vorwärts schreitenden Drehtür Adèles Charakterbildung interessieren, einfach weil man neugierig wäre was eigentlich aus der verwirrten, unbedarften Schülerin geworden ist. In direkter Konfrontation zu Teil 1, zunächst nicht deutlich ersichtlich wo das eine Kapitel überhaupt aufhört und das andere anfängt, leidet der Unterhaltungswert und auch das Interesse des Zuschauers, und dies, wie bereits erwähnt, aber ruhig noch einmal betont, nicht aufgrund der langen Laufzeit. 

Für das erste Kapitel, zu welcher Minute es auch immer aufhören mag, spreche ich eine ganz klare Empfehlung aus. Hier ist "Blau ist eine warme Farbe" großes Kino, sensibel und berührend, eine Pflicht für jeden Dramen-Freund, der authentische Geschehnisse erleben möchte, anstatt die Märchenwelt eines US-Dramas. Die zweite Hälfte kann man sich, trotz theoretisch großartiger Umsetzung, Darstellung und einiger sehr intensiver Momente, allein aufgrund des sich einzig als Nachzügler anfühlenden, ereignislosen Drehbuchs, eigentlich sparen. Andererseits sollte man ruhig auch dort mit heruntergefahrenen Erwartungen einen Blick riskieren, vielleicht aber an einem anderen Tag, oder zu einer späteren Stunde geguckt, und nicht wie von Regisseur Abdellatif Kechiche gewollt mit Kapitel 1 an einem Stück. In einer Zeit des Heimkinos kann man als mündiger Zuschauer derartiges von sich aus verändern, indem man aus einem Film selbstständig zwei macht, anstatt sich eine Fehlentscheidung diktieren zu lassen, die am Sehwert nagt.  OFDb

2 Kommentare:

  1. Stimmt, die zweite Hälfte ist tatsächlich sehr inkonsistent und in der sprunghaften Art nicht konsequent und direkt genug erzählt, wie es noch der Anfang vermittelte. Der Coming-of-Age Part ist aber ausnahmslos sehenswertes Drama in all seinen Facetten. Und beide Protagonistinnen sind fabelhaft.

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    1. Da sind wir uns ja völlig einig. Schön dass es nicht nur mir so geht.

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