12.05.2021

RAW (2016)

"Raw" fordert heraus. Er ist intellektuelles und blutiges Kino zugleich, in seinen Interpretationsmöglichkeiten vielschichtig, seine oberflächliche Geschichte dennoch vordergründig abarbeitend. Er ist trockenes Kino, aber auch gewagt und verstörend. In erster Linie aber ist er anders, gerade wenn man ihn mit ähnlichen Stoffen vergleicht, in welchen das sexuelle Erwachen durch ein Horrorelement ersetzt oder ergänzt wird. Der Blutgier wegen muss sich eine junge Frau heutzutage nicht mehr in ein Tier verwandeln, wie es in den 40er Jahren noch bei "Katzenmenschen" der Fall war. Der reine, nicht weiter erklärbare, Zwang zum Kannibalismus reicht aus. Und wo andere Werke von diesem Punkt an Begründungen liefern würden, während sie die Geschichte klassisch ablaufen lassen würden, stellt sich "Grave" (Originaltitel) der Herausforderung Konsequenzen in den Eventualitäten zu suchen, welche die Grundlage vorgibt. Verzicht und Heimlichtuerei fordern ihre Tribute. In der Schwester, welche die selbige Uni besucht und unter selbigem, und somit vererbbarem, Laster leidet, findet sie eine Verbündete und Konkurrentin gleicher Maßen. Der schwule Mitbewohner steht ihr nur langsam verstehend stets bei, und selbst dieser Nebenstrang verläuft äußerst individuell erzählt. 

Während sich abscheuliche Ekelszenen überraschender Weise häufig außerhalb der klassischen Splatterszenen finden, fordert die Geschichte inhaltlich mit aufwühlenden Einzelsituationen heraus. Ob es Justines Qualen durch Verzicht unter der Bettdecke sind, ein offen vor allen Studenten dargebotenes Beißduell unter Geschwistern, oder das bittersüße, blutige und überraschende Ableben eines Verbündeten, "Crudo" (Alternativtitel) bietet nie was man erwartet. Da wird beim Tanz erotisch am Augapfel geleckt, ein Intimwaxing schmerzt auf andere Art als erwartet, Cybermobbing findet auf eine Art besoffener Hundedressur statt, und Gefühlskälte zeigt sich am Desinteresse einer Hundeeinschläferung, die nur stattfand, da das der Familie stets treue Tier als Alibi-Täter herhalten musste. Und obwohl Julia Ducournau in ihrem ersten und bislang letzten Langfilm derartig viele Schauwerte packt (von den blutigen Szenarien, die sich zum Ende hin mehren, ganz zu schweigen), ruht sich "Freaking" (Alternativtitel) doch nie auf derartigem aus, sondern bietet eine analytische Charakterstudie einer ganzen Generation, deren Aussagen und Tiefgang man selbst entdecken muss. In seiner schlüssigen (und somit stimmigen) Psychologie beweist sich der Film diesbezüglich nicht als Blender, in "Raw" passt so ziemlich alles zusammen. 

Die Schlusssequenz überzeugt zwar nicht in seiner Vererbungsaufdeckung (ohne diesen Aspekt hätte alles Vorangegangene nie viel Sinn gemacht, so dass es überraschen darf, wie sehr das Einweihen in ein Geheimnis für Justine unvorbereitet daher kommt), aber das eigentliche, augenzwinkernde Anliegen dieser Szene liegt ohnehin in der Aufgabe, welche die junge Frau zur Problemlösung gestellt bekommt. Im Gegensatz zur Schwester war sie schon immer die klügere. Das wird in dieser Schlusssequenz, wie in so vielen anderen vorausgegangenen Situationen, eine wichtige Charaktereigenschaft, sofern man die Zusammenhänge diesbezüglich als Zuschauer selbstständig entdecken kann. In seiner arg nüchternen, unterkühlt intellektuellen Art war mir der in der Hauptrolle lobenswert natürlich besetzte "Raw" zunächst eine Spur zu anstrengend, was aber an meiner Tagesform lag. Die Zweitsichtung genoss ich entspannt, vom Regisseur ernst genommen und künstlerisch intellektuell angefixt um so mehr. "Raw" ist außergewöhnliches, andersartiges Kino mit effektiver Musikuntermalung und überzeugenden Spezialeffekten. In seiner reflektierten Art ist er Cineasten- anstatt reine Horror-Kost, so oder so benötigt man aber einen starken Magen. Die FSK 16 täuscht diesbezüglich gewaltig.  OFDb

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