24.04.2022

WER HAT TANTE RUTH ANGEZÜNDET? (1972)

"Whoever Slew Auntie Roo?" reimt sich so wunderbar im Originaltitel und macht damit bereits den augenzwinkernden Umgang deutlich, den wir in diesem britischen Horrorfilm von Curtis Harrington zu erwarten haben. Der hat ein Jahr nach "Was ist denn bloß mit Helen los?" erneut Shelley Winters ins Zentrum dieses Genres gesteckt, und die wirkt mit ihrem Lächeln und dem runden Gesicht immer etwas harmlos innerhalb einer Rolle, in die man sich eher Bette Davis wünschen würde. Die Mentalität des Streifens und damit die Positionierung von Ruth einmal begriffen, ist sie jedoch genau wegen dieser Ausstrahlung eine gute Besetzung. Denn das Drehbuch ruht sich nie auf irgendwelchen Erwartungen aus, kann deswegen sowohl im Titel spoilern, als auch mit dem Präsentieren einer mumifizierten Kinderleiche Ruths geistige Fehlleitung von Anfang an deutlich machen, denn "Dead Time" (Alternativtitel) belässt es nicht bei einer ähnlichen Chose wie "Psycho", bedient sich an diesem in Wirklichkeit nur aufgrund der Erwartungen, die derartige Parallelen automatisch hervor bringen, und selbiges gilt für die stets deutlich im Raum stehenden Parallelen zum berühmten Märchen "Hänsel und Gretel". Es wird Tante Ruth und ihrer geistigen Entgleisung letztendlich zum Verhängnis, dass der große Bruder, der seine Schwester beschützen will, in welcher Ruth einen Ersatz für ihre durch einen Unfall  verlorene Tochter sieht, Kenntnis dieser Geschichte der Brüder Grimm hat und aufgrund der Übereinstimmungen der Geschehnisse anfängt daran zu glauben Ruth sei eine Hexe. 

Diese nach Außen hin nette Gastgeberin tickt sicher nicht sauber und begeht mit dem Gefangenhalten der Kinder sogar ein unverzeihliches Verbrechen, aber sie ist nicht der dämonische Aggressor eines Horrorfilmes, tatsächlich sogar ehrlich kinderlieb, und letztendlich ebenso Opfer der Umstände und damit eine tragische Rolle. Ihre Gefühlswelt ernst nehmend und die Bedrohung des immer nur zu erahnenden Fortschritts der Geschichte fest im Griff, gelingt es Harrington, auch dank eines guten Drehbuchs, gekonnt dennoch stets jenen augenzwinkernden Grundton aufrecht zu erhalten, der "Gingerbread House" (Alternativtitel) das Sahnehäubchen beschert, welches ihn mitunter so besonders macht. "Wer hat Tante Ruth angezündet?" lebt von Zufällen, von Zusammenkünften und von halben Einblicken in Geschehnisse. Er zeigt uns wie ahnungslose Menschen (andere existieren nicht in diesem Film) mit der undurchschaubaren Situation innerhalb ihres eingeschränkten Blickwinkels jeweils umgehen, um uns schließlich zum unvermeidbaren, bitteren und tragischen Ende zu führen, welches der deutsche Titel treffender vorweg nimmt, als der sich runder anfühlende Originaltitel. Umso fieser kommt das Kinderlächeln im Ausklang der Geschichte daher, welches uns suggeriert, dass der stets schurkische große Bruder nicht nur edelmütig handelt, sondern, nun wo er die Wahrheit kennt, trotzdem mit sich und seinen Taten zufrieden ist. Das bisher unterschwellig mitschwingende Gefühl, er könne ebenfalls nicht ganz sauber ticken, wird damit bei guten Beobachtern bestätigt, eben weil diese Erkenntnis in der Schlussphase nicht mit dem Holzhammer ins Zentrum gerückt wird, wie später in "Halloween 4". 

Inmitten seines verspielten Szenarios, in dem man immer zu Erwartendes ahnt und sich dennoch aufgrund der kaum zu greifenden Motivation diverser Figuren fragt worauf der Film hinaus will, punktet "Who Slew Auntie Roo?" (Alternativtitel) mit reichhaltigen Zusatzelementen, von denen man nie weiß wie viel Hintergrund sie bilden und wie stark sie Einfluss auf die entscheidenden Geschehnisse haben werden. Da gibt es eine strenge Lehrerin, die es nur ungern sieht wie die beiden im Zentrum stehenden Waisenkinder sich ihre Einladung zu der stets freundlichen Tante Ruth erschlichen haben. Da werden Seancen abgehalten, um Kontakt zur verstorbenen Tochter herzustellen, die einen ähnlichen Namen wie das im Zentrum stehende Waisenmädchen hat. Betrüger, Geldgier und falsche Freunde schwingen im Umfeld Ruths ebenso mit, wie ihre Vergangenheit, in welcher sie mit einem Zauberer verheiratet war, von dessen jetzigen Leben oder seinem Ableben wir nichts wissen, sehr wohl aber von dem der Tochter, gestorben aufgrund des weichen Herzens Ruths, als der Gatte für einen kurzen Moment abwesend war und sie etwas erlaubte, was im Haus sonst verboten war. Dass er existierte führt zu einer der gruseligsten Momente des Streifens, der in der Kammer spielt, in welcher seine ehemaligen arbeitstechnischen Besitztümer wie in einem Schreckenskabinett gesammelt werden, womit der Film für einen längeren Moment wunderbar die Grundstimmung von "Tourist Trap" voraus nimmt. 

Wird die in dieser Szene, in einem atemstockenden Szenario angewandte Guillotine noch einmal eine entscheidende Position in den Finalereignissen einnehmen, wird hier nur zu einer von vielen Fragen, welche die gerade von mir aufgelisteten Randereignisse generell stets aufwerfen, so dass "Wer hat Tante Ruth angezündet?" einem trotz diverser Vorwissen immer wieder auf Trab hält. Je weniger man über die Geschichte weiß, desto besser. Es sei also jedem Liebhaber britischer Horrorfilme zu diesem kleinen, relativ unbekannten Leckerbissen geraten, auch wenn er nur zwischendurch, immer wieder nur kurzfristig, auf Grusel achtet und uns hauptsächlich schmunzelnd und gleichzeitig emotional betroffen an den Auswirkungen teilnehmen lässt, die das Zusammentreffen diverser Menschen mit Geheimnissen und Macken, mit jeweiligem Halbwissen in einem morbiden Szenario mit sich bringt. Das schaut sich wie eine empathische Version von einem mörderischen Spaß mit versteckter Kamera. Dass der Zuschauer von der Motivation und von seinem Wissensstand den wichtigen Figuren des Streifens gar nicht unähnlich ist, beweist die vorhandene psychologische Raffinesse des Streifens, die keinesfalls zufälliger Natur ist.  OFDb

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