18.08.2024

STRANGE DAYS (1995)

Aufgezeichnete Bewusstseinsmomente sind auf dem Schwarzmarkt das neue Video-Highlight, um Situationen wie Sex, Tod oder Gefahrenmomente wie am eigenen Leib zu erleben. Der Ex-Cop Lenny handelt mit derartigen Aufnahmen und kommt in Schwierigkeiten, als er ohne es zu bemerken an eine Aufzeichnung gerät, die Informationen enthält, für die jemand über Leichen geht...

Die Welt am Abgrund...

Man kann darüber diskutieren, ob es mutig oder dämlich ist, einen Film aus der nahen Zukunft (das Jahr 1999) zu wählen, um von einer Gesellschaft zu erzählen, die für den aufgezeigten Niedergang und den technischen Errungenschaften wesentlich mehr Zeit benötigen würde. Das macht den Stoff unglaubwürdig. Und Sinn macht das Spiel mit dem Millenium, dem einzigen Grund warum man das nahe Zeitfenster wählte, für die Geschichte sowieso nicht. "Strange Days" ist ansonsten jedoch gut und  durchdacht erzählt. Somit hinterlässt er eher den Eindruck einer alternativen Welt, die unserer ähnlich ist. Dem Gelingen steht besagter Kritikpunkt also nicht im Weg. Die Geschichte ist weit banaler geprägt, als all das Brimborium, mit welcher sie aufgepeppt wird, einen wahrnehmen lässt. Der u.a. aus der Feder von Erfolgs-Regisseur James Cameron stammende Science Fiction-Film zeigt uns eine dreckige, hoffnungslose und asoziale Zukunft, in der sich fast jeder selbst überlassen ist und in der es nur noch wenige Menschen mit Idealen gibt. Unser Held zählt nicht dazu, auch wenn es gewisse Anflüge von Restmoral bei ihm zu entdecken gibt. Mit seinen mal selbst-, mal fremdverursachten Problemen steckt er mit dem Kopf zu sehr im Arsch, um klar zu sehen. Dass er mitten in einer Verschwörung steckt, bemerkt er erst spät. Bei einer Laufzeit von 140 Minuten ist dies ein reizvoller Weg der Erzählung.

"Strange Days - Die Zukunft ist jetzt" (Alternativtitel) lässt uns Zuschauer aber ebenfalls über vieles im Unklaren. Da gibt es Einflüsse auf die Hauptereignisse womöglich über die heruntergekommene Ex des Helden und deren neuem, mächtigen Lover, es gibt wie erwähnt das Spiel mit dem kommenden Jahrtausendwechsel, es gibt Gerüchte Lenny habe Beweise von einem Geheimnis über das niemand etwas weiß, und es geht ein Psychopath um, der die neue Aufzeichnungstechnik so umfunktioniert, dass seine Opfer sich selbst beim Folter- und Sterbeprozess sehen können. An Abscheulichkeiten mangelt es in diesem Sumpf an Gesellschaft nicht, aber dies ist selbst für die Leute der hier gezeichneten Welt mehr als sie ertragen können. Aber was hat mit all den ominösen Geschehnissen, welche die Hauptfigur und ihr Umfeld in Lebensgefahr bringt, konkret zu tun, und was ist Ablenkung und Täuschung? Die Auflösung ist interessant, bedient sich aber einer Person, die aufgrund ihrer zu schurkisch anmutenden Besetzung dem erfahrenen Cineasten längst als Bösewicht klar war. Aber dieser bestätigte Verdacht betrifft glücklicher Weise nur die Person, nicht die Beweggründe warum was passiert, wir schweben diesbezüglich ebenso im Unklaren wie Larry. Und obwohl es für einen Science Fiction so gut wie keine tatsächlichen Schauwerte gibt (die hohe Anzahl an Actionszenen einmal ausgeschlossen), funktioniert der futuristische Krimi-Plot auf seine Überlänge überraschend gut.

Es erstaunt regelrecht, dass auf die Cyberpunk-Elemente verzichtet wird, die im Genre-Kino der Entstehungszeit gerade so beliebt waren (als Beispiele sei nur einmal "Johnny Mnemonic", "Tank Girl" und "Flucht aus L.A." genannt). Denn rein mental atmet "Strange Days" deren Luft, es wird nur auf übermäßig schräge Figuren und Technikschnickschnack verzichtet. Das gelebte Illegale im Alltag, das Verrottete der Gesellschaft, soll reichen, und das tut es auch. Hervorragend unterstützt wird dieser Blick auf eine erbärmlich gewordene Zukunft durch die Figur der Ex-Freundin des Ex-Cops. Sie ist nicht nur abgefuckt und heruntergekommen charakterisiert, sie wird zudem geradezu provokativ von Juliette Lewis sexy dargestellt. Für eine derartige Prominenz ist es geradezu untypisch, wie gewagt nackt sie sich hier präsentiert, doppelt moralisch reingewürgt, weil sie schon immer, auch in diesem Film, wie eine Minderjährige wirkt, mit ihrer jüngeren Ausstrahlung. Das provoziert, reizt, verunsichert und verabscheut, wird aber nicht übertrieben, sondern lediglich zu einem funktionierenden Element in der kompletten Maschine. "Strange Days" wird durch derartiges nicht zum reinen Provo-Film, er soll trotz seines Hangs zu reißerischen Schauwerten dennoch reflektiertes Kino sein. Dieser Punkt ist es auch, der Kathryn Bigelows Werk von "8mm" unterscheidet, der ebenfalls den Abschaum der Gesellschaft nahm, um tief im Sumpf der menschlichen Abgründe zu wühlen, dabei aber zu theatralisch und moralisch vorging.

"Strange Days" hingegen funktioniert, und er tut es bewusst durch das Einsetzen von Mainstream-Hebeln. Er ist deutlich für den Massengeschmack ausgelegt, allein schon weil er nie einen empathischen Versuch unternimmt die für den Stoff so wichtige Gefühlswelt des Helden mehr als Klischee sein zu lassen. Ob er auch entsprechend beim Zielpublikum ankam, bei all dem Pessimismus, den er entgegen deren üblichem Wohlfühlanliegen atmet, weiß ich nicht. Abgesehen von der zu früh zu erkennenden Täteraufdeckung geht dieser Mix aus sicher Erzähltem und gewagt dreckigem Stil in Ordnung. Dass "Strange Days" viel banaler ist, als er uns die ganze Zeit vormacht, wird gewitzter Weise als bewusste Pointe genutzt, anstatt als unaufgedeckte Methode, die möglichst niemand bemerken soll. Auch diese Herangehensweise finde ich äußerst reizvoll. "Strange Days" hätte noch etwas mehr Kult-Potential benötigt, um zu einer Größe des Genres zu werden, aber überdurchschnittlich ist er in seiner packenden Art und dem Kreieren seiner der unseren Gesellschaft nahen Zukunftswelt dennoch ausgefallen. Die Chance mittels der neuen Technik intelligente Kritik am Konsumverhalten der Gegenwart zu vertiefen, verschenkt er für sein Action-Hauptaugenwerk, geht also in Ordnung, da er weiß was er will. Und zu viel Tiefgang gehörte bewusst nicht dazu. "Matrix" zeigte jedoch nur wenige Jahre später, dass Intellekt und Action zugleich definitiv möglich gewesen wären, auch im Mainstream.  Wiki

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