30.05.2022

GEFANGEN IM NETZ (2020)

"Gefangen im Netz" ist eine hoch interessante und gleichzeitig schockierende und verstörende Dokumentation über Kindesmissbrauch im Internet, selbst dann wenn man bereits ahnt wie düster es diesbezüglich im Internet aussieht. Für ein Experiment wurden jung aussehende Schauspielerinnen auf 12 Jahre getrimmt, mit Fake-Profilen ins Netz gestellt, um von nun an drauf zu warten was sich tut. Es erstaunt wie schnell sich hunderte von Interessierten jeglichen Alters über 18 melden, und es schockiert wie sehr sie doch alle nur masturbierend das selbe wollen und wie ungeniert sie sich (versuchen zu) holen, was sie nicht dürfen, ohne dabei auf das Wohlbefinden der sich ganz klar als 12jährige ausgegebenen Mädchen Rücksicht zu nehmen. Begleitet von Psychologen und anderweitigen Beratern im Hintergrund erleben die Mädels auf klassischen Plattformen der sozialen Netzwerke nicht nur sexuelle Übergriffe, sondern auch Erpressung und Einschüchterung. Die Täter werden stets optisch entfremdet, ihre sexuellen Taten verpixelt, aber man verspürt eine gewisse Genugtuung darüber, dass ihr Wohnumfeld nicht entfremdet wurde, so dass Bekannte Wohnungen wiedererkennen könnten. Ebenso tut es gut zu erfahren, dass die tschechische Polizei Strafanzeige gegen die Täter in der Doku erstattet hat. 

Wahrlich schockierend ist hingegen die Tatsache, wie alltäglich es ist, was dieser Dokumentarfilm aufdeckt. Bereits im Vorfeld erfährt man während des Castings, dass etwa 2/3 der Bewerberinnen persönliche Erfahrung mit Belästigungen im Netz mit an Bord brachten. Für interessante Rahmeninformationen sorgen besagte Berater, die selbst jedoch ebenfalls eine Frage nicht eindeutig beantworten können: was sind das für Menschen, die derartiges im Netz ausleben? Denn eines ist klar, und das wird einen Großteil der Zuschauer überraschen: Pädophile sind es nur zu einem geringen Prozentanteil, wie die Psychologin im ersten Drittel zu berichten weiß. Was uns in "Gefangen im Netz" begegnet sind jedoch ansonsten nicht nur Notgeile, die dem Reiz des Verbotenen erliegen, teilweise sind es Männer, die gerne Druck ausüben und sich an der Angst der Mädchen laben, gelegentlich sind es soziale Versager, die sich eine Nische suchen, in der sie sich trauen, was sie sich unter Erwachsenen nicht trauen, doch egal wer es letztendlich ist, er ekelt an, er macht traurig, er macht wütend, er zeigt ein besorgniserregendes Bild. 

Der engagierte Film macht am Ende deutlich, dass das Gezeigte nun keinesfalls dafür sorgen soll, dass man die Kinder vom Netz fern halten soll. Er spricht stattdessen grob an, was von Eltern stattdessen erwartet wird. Man kann nur hoffen, dass viele Erziehungsberechtigte bis zum Schluss durchhalten, um den Ratschlägen der Verantwortlichen dieser Dokumentation auch nachzukommen. Man kann jedoch verstehen, dass manch einer dies nicht schafft. Es ist schließlich bitter mit anzusehen, was das Experiment hervor bringt. Erfreulicher Weise gibt es von "V siti" (Originaltitel) zwei Versionen, die beide in der zu erstehenden DVD-Veröffentlichung verteilt auf zwei Discs enthalten sind. Neben der Langfassung für Erwachsene gibt es eine (auch für den Schulunterricht geeignete) Kurzfassung für Kinder und Jugendliche, die ihnen helfen soll Gefahren im Internet zu erkennen, sich im Netz richtig zu verhalten und einiges mehr. Freilich verzichtet diese Version auf die sexuellen Bilder der Langfassung. Eine Schrifteinblendung zum Schluss der regulären Fassung stellt uns neben der uns bereits bekannten tschechischen Daten noch einige deutsche Zahlen bereit, um zu verdeutlichen, dass das was den Mädels in "Caught in the Net" (Alternativtitel) passiert keinesfalls ein tschechisches Problem ist. 

Das schwierig zu greifende Thema wird manipulationsfrei, orientiert an ganz klaren Verhaltensregeln der Mädels, angegangen. Sexuelle Taten dürfen von den Schauspielerinnen nicht provoziert werden, müssen stets mehrfach abgeblockt werden bevor sie nachgeben, und es muss ganz deutlich zu Beginn der Gespräche auf das Alter verwiesen werden (was die meisten der Darstellerinnen sogar wiederholt im selben Kontakt erwähnen). Der Film lässt es bis zu erpresserischen Nacktfotos kommen, ja sogar bis zu (von verstecktem Sicherheitspersonal begleiteten) Livetreffen mit den Tätern. Er scheut sich keiner Thematik, keiner Extreme, verheimlicht aber auch nicht den einzigen Lichtblick inmitten dieses Sumpfes aus Perversion und Kindesmissbrauch. So oder so ist er ein Lehrstück zu einem unangenehmen Thema, ein Wachrüttler, aber er ist ein unaufgeregt angegangenes Stück Dokumentarfilm. Er gibt sich nie dem reißerischen Szenario oder einer Hysterie hin. Das hat er bei derart schockierender Entwicklung des Experiments auch nicht nötig. 

Die einzigen Kritikpunkte meinerseits sind zum einen die schockierenden Worte darüber, wie unkontrolliert das Internet noch immer ist (ist es doch gerade der Vorteil des Internets nicht komplett von sich zu sehr einmischenden Staaten überwacht zu sein) und zum anderen eine Aktion gegen Ende des Films, wenn die Filmcrew einen der Täter mit der Wahrheit des Filmprojektes konfrontiert, um ihn Stellung beziehen zu lassen. Letztgenannte von mir kritisierte Aktion ist sicherlich nicht ohne Reiz und ebenfalls hoch interessant anzuschauen. Es ist aber auch der einzige Moment im Film, der selbstgerecht und empört daher kommt, anstatt das was anzuprangern ist ganz unbeeinflusst von den Verantwortlichen des Projekts entstehen zu lassen, auf ganz (un)natürliche Art, so wie es der Rest von "Gefangen im Netz" tut. Mit beiden Momenten kann ich in diesem ansonsten hervorragend umgesetzten Stück Dokumentarfilm aber bestens leben.  OFDb

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