Einen Monat nach dem Tod seines Vaters macht Teenager Victor Urlaub
bei seinem Onkel und seiner Tante. In dem kleinen Wohnort findet Victor
schnell Kontakt zur gleichaltrigen Fania. Victor ist unerfahren bei dem
anderen Geschlecht und holt sich Hilfe bei Conchita, einer Mitarbeiterin
im Betrieb des Onkels. Dem wiederum plagen ganz andere Probleme...
Wann ist der richtige Zeitpunkt für den ersten Kuss?...
Bis auf eine einzige Szene zeigt uns Regisseur Vincent Bal die Welt aus der Perspektive eines jungen Teenagers. Victor ist das andere Geschlecht noch fremd, er hat den kürzlichen Tod seines Vaters noch nicht verarbeitet, und in seiner Phantasie flüchtet er sich in eine Superheldenrolle. Dort ist er zusammen mit seinem Vater Weltraumforscher, die brisante Abenteuer erleben. In diesen Fantasien verarbeitet der Junge seine Erlebnisse, häufig noch während sie geschehen. Das Flüchten in diese Fantasien wird jedoch nicht eingebracht, um einen jungen Mann zu zeigen, dem die Realität fern ist. Victor ist sich seiner Fantastereien bewusst, trotzdem hilft ihm der Blickwinkel aus dieser abenteuerlichen Perspektive.
Allein dass Victors Vater ein Weltraumheld ist, zeigt bereits, wie symbolreich Bal arbeitet. Wer kennt es nicht umgangssprachlich, dass wer Verstorbenes „im Himmel ist“. In seiner Fantasie ist es der Herr Papa auf andere Art.
Die Fantastereien schauen sich wie nostalgische, fast lächerliche, Science Fiction-Filme aus den 50er Jahren. Grelle Weltraumanzüge, ein Monster im Stile des „Schrecken vom Amazonas“, funkelnde, künstliche Sterne. Es ist ein Spaß zuzuschauen, und irgendwie schafft es Bal, dass diese Szenen, eben weil sie Kinderfantasie sind, nicht so lächerlich wirken wie in vergangenen Streifen. In „Im Sturzflug zur Erde“ wirken sie sympathisch, wenn auch naiv.
Aber das passt. Victor ist durch sein Alter noch sehr naiv. Und er ist unsicher, was wiederum seine Flucht in die Weltraum-Welt erklärt. Doch auch wenn eben diese Szenen in Film-Medien gerne hervorgehoben werden, so muss ich doch darauf hinweisen, dass sie Nebensache sind, theoretisch gesehen sogar Szenen die man sich sparen könnte, auch wenn mancher Nebenaspekt dadurch flöten ginge.
Im Mittelpunkt steht, wie im Jugend-Drama üblich, das Erwachsen werden. Und wäre der Film nicht so authentisch und sensibel erzählt, man käme sich vor wie im Klischee-Meer. Ein Teenager verliebt sich in eine Urlaubsbekanntschaft. Er weiß nicht wie man küsst. Er lernt dies von einer erwachsenen Frau und verliebt sich in die. Äußere Störungen verhindern stets den ersten Kuss der aufblühenden Liebe. Doch selbst wenn aus einer Sub-Story heraus viel blauäugigere Momente aufkommen, Szenen die den Onkel Victors betreffen, so wirkt „Im Sturzflug zur Erde“ doch nie wie Kino. Der Film wirkt echt, diese Kindheitserlebnisse und Charaktere sind durchaus möglich und somit realitätsnah.
An dieser authentischen Wirkung machen auch die Schauspieler viel aus, allen voran die Jungdarsteller. Fania ist eine wunderhübsche junge Frau, die ihrer Rolle entsprechend Schmollmund, Arroganz, Unsicherheit und falsche Coolness zu mimen weiß. Die Rolle des Victors schafft es ebenso, ihm kommt es sogar zugute, dass er etwas mädchenhaft wirkt. Es ist lustig. Wer die Teenie-Komödie „Als Junge ist sie spitze“ kennt, dem kommt der Darsteller des Victor gar vor, wie die Teenagerin in ihrer Rolle als Junge.
Der gesamte Film dreht sich letzten Endes klassisch darum, ob die beiden sich nun küssen oder nicht. Und erst mit der Antwort auf diese Frage schließt der Streifen. Diese Antwort ist die einzige Szene, die wir nicht aus Teenagersicht miterleben dürfen. Ist der große Moment der Wahrheit gekommen, erleben wir ihn aus der Sicht des Onkels und Fanias Vater. Das nimmt der Intensivität dieser Szene nur wenig von seinem ursprünglichen Potential. Bedenkt man jedoch, wie sehr man im Restfilm mit Victor mitfiebert, fasziniert die überschwappende Romantik verfolgt, wie sehr man jung geworden gar nervös mitwibbelt und sich dabei erwicht Vivtor zuzuflüstern: „Nun küss sie doch!“, so tut es doch etwas leid den finalen Moment mehr theoretisch mitzuerleben, statt aus dem Blickwinkel der Liebenden.
„Im Sturzflug zur Erde“ ist großteils tragisch. Aber das ist er auf lebensnahe Art, so dass die Tragik nie wirklich traurig macht. Teenager blähen ihre eigenen, kleinen Problemchen nun einmal zu Weltuntergängen auf. Und so betrachtet Bal die Erlebnisse des Victors wohl auch, allerdings ohne deswegen respektlos zu werden. Victors Probleme werden ernst genommen. Sie sind Teil seiner Entwicklung. Ein junger Mann hat nun einmal Angst vor dem ersten Kuss. Wann ist der richtige Augenblick dafür? Das ist eine der Kernfragen des Films.
Wie schon eben bei Fania beschrieben, gehen Coolheit, erstes Entgegenkommen, Schüchternheit, Unsicherheit, Arroganz Hand in Hand, in Victors Fall sogar kurzfristig das Gefühl des Selbstbewusstseins, nämlich in jenem Moment, als er von Conchita das Küssen lernt und Fania in seinen Augen plötzlich zu jung ist. Er ist nun kein Kind mehr. Er hat geküsst. Aber dieses falsche, aufgeblähte Selbstbewusstsein ist schnell wieder verschwunden, und die Wahrheit kommt hoch.
„Im Sturzflug zur Erde“ ist großes, aber stilles belgisches Kino. Das Drama streift den Bereich der Tragikomik, ist aber für diese Bezeichnung jedoch nicht witzig genug. Bals ist ein Werk geglückt, das aus dem Leben gegriffen scheint. OFDb
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