01.08.2020

DER ZEMENTGARTEN (1993)

Sieht man einmal vom fehlenden Aspekt der Problemkinder ab, kann man die Gemeinschaftsproduktion aus England, Frankreich und Deutschland namens "Der Zementgarten" als eine Art Dramenversion der niederländischen Komödie "Familien-Bande!" betrachten, zumindest was dessen zweite Hälfte betrifft. Andrew Birkins letzte Regie-Arbeit, von gerade einmal drei Langfilmen und einem kurzen, basiert auf einem von ihm verfassten Drehbuch und konzentriert sich auf den Blickwinkel des 16jährigen Jack, der mit seinem fast schon kontrolllosen Masturbationsverhalten noch immer tief in der Pubertät feststeckt. Altersbedingt fallen seine Probleme aus. Mit der Erkrankung der Mutter werden diese immer mehr zu Luxusproblemen, die hinten anstehen müssen, obwohl sie von der Gefühlswelt her geradezu typisch für einen jungen Mann dieses Alters sind, unabhängig davon wie egoistisch manche von ihnen auch sein mögen. Eine erotische Schwärmerei für die etwas ältere Schwester ist mit vorhanden und soll zu einem elementaren Bereich innerhalb der tragischen Geschichte werden. Stärker und entrückter werden diese Gefühle jedoch erst nach dem Tod der Mutter, wenn so vieles andere innerhalb der verstörenden, ungewöhnlichen Situation ebenfalls entrückt.

Bereits der Handlungsort zeigt eine sterbende Epoche, die sich verzweifelt an alte Zustände festkrallt. Ein nach außen baufälliger Betonklotz von Haus, einsam in einem Abrissgebiet liegend, wird von den letzten Menschen der näheren Umgebung bewohnt. Er wirkt trist und unwirklich inmitten dessen und ebenso wirkt das Zusammenleben der vier Geschwister, die auch nach ihrer ungesetzlichen Verzweiflungstat der Normalität immer mehr entrücken. Der Kleinste kleidet sich mit Perücke und Frauenwäsche als Mädchen und spielt meist auf der Baustelle, die jüngere Tochter verkriecht sich in den Keller, um in der Nähe des Muttergrabes ihre Gedanken mit sich allein gelassen im Tagebuch festzuhalten, Jack wäscht sich seit Wochen nicht und zieht sich nicht um und versinkt immer mehr in erotische und romantische Vorstellungen über seine Schwester Julie, was zur Eifersucht wird, als diese einen etwa 30jährigen Verehrer bekommt, der zu einer Art Familienfreund wird. Sie selbst hält den Laden von allen am effektivsten am Laufen und entrückt der Realität am wenigsten, mit Ausnahmen erotischer Provokationen, da sie mitbekommt wie ihr Bruder auf sie reagiert. Die Wohnung wird durch Machtspiele immer schmutziger, der Dreck und der Spül bleiben liegen, der Garten verkommt immer mehr.

Der sinnlich erzählte Film besitzt den Clou, ähnlich wie "Necrophile Kiss" drei Jahre später, diese Neigungen außerhalb der Normalität aus dem Blickwinkel der Betroffenen als selbstverständlich und nachvollziehbar einzufangen. Es ist der Durchschnitt, in Form des immer neugieriger und kritischer werdenden Verehrers von Julie, der Befremdung und Unbehagen ins immer friedlicher werdende Miteinander bringt. Sein Blickwinkel bringt die wahre Unruhe herein, während uns die Welt der waisen Geschwister unter sich in einer empathischen und natürlichen Art offenbart wird, die emotional gleichermaßen verstört, wie zufrieden stellt. Man wird konsequent in die Gefühlswelt der Protagonisten entführt, empfindet mit ihnen, anstatt gegen sie und empfindet somit die Außenwelt, von der man so gut wie nichts mehr mitbekommt, innerhalb dieser Isolation als rau, hart und unfair. Der Ort der Entrückung wird zur Oase des Beisammenseins und der Friedlichkeit. Die Reibereien, meist um die Macht wer was zu sagen hat, entschwindet immer stärker, hier findet sich ein Platz des gegenseitigen Verstehens und Akzeptierens und des sich gegenseitigen Näherkommens, bishin zum inzestuösen Höhepunkt. Der wird sinnlich, aber nicht reißerisch thematisiert, fast schon verschmitzt, aber nicht verharmlosend und führt zu einem perfekt gesetzten Schlusspunkt der Erzählung, mit dem Birkin den Zuschauer von nun an alleine lässt.

Ihm ist innerhalb einer ungewöhnlichen, aber eigentlich recht simplen Geschichte großes Kino geglückt, welches durch seine europäische Herkunft Stereotype und Klischees komplett umgeht und uns stattdessen Individualität und Authentizität präsentiert, so dass uns alles Gezeigte geradezu natürlich erscheint. "The Cement Garden" (Originaltitel) ist ein Werk der stillen Töne, dem die Gefühlswelt seiner Figuren und die Nähe zu diesen wichtig ist, das frei von Moral erzählt ist, den Zuschauer mündig miterleben und begreifen lässt und dabei nie den Pfad der Glaubwürdigkeit verlässt, oder in Versuchung gerät sein Geschehen reißerisch oder lüstern einzufangen. Quantitäten werden umgangen, es geht um das Verstehen und nicht um niedere Gelüste. Es geht darum das Publikum herauszufordern, den eigenen Tellerrand zu überwinden und sich in eine Lebenssituation einzufinden, die es nicht kennt. Dementsprechend wirkt "Screen Two: The Cement Garden" (Alternativtitel) nie gewollt, pseudo-intellektuell oder verkrampft, was auch dank der natürlich agierenden Jungdarsteller so gut zu funktionieren weiß. Mit Andrew Robertson bekommen wir einen tatsächlich milchgesichtigen und verpickelten Teenager präsentiert, mit Charlotte Gainsbourg eine geradezu selbstverständlich taffe und emanzipierte junge Frau. Beeindruckend ist zudem das Spiel des jüngsten, der auch in schwierigsten Situationen, die nicht der üblichen Lebenswelt eines Kindes in diesem Alter entsprechen, eine Natürlichkeit beibehält, die man einem Kind diesen Alters nicht zutrauen würde. Ohnehin geht ein großes Lob an Birkin für die Heranführung der mutig agierenden Darsteller an ihre Rollen. "Der Zementgarten" ist gelungenes, ungenormtes und authentisch anmutendes, europäisches Freidenker-Kino, wie ich es insbesondere im Bereich des Jugend-Dramas geradezu liebe.  OFDb

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