28.03.2015

NACKT UND ZERFLEISCHT (1980)

„Nackt und zerfleischt“ ist eine der härtesten Prüfungen, die man als Filmfreund durchleben kann. Er ist ein schwer verdauliches Stück Film, welches seine Geschichte völlig unverschönt präsentiert. Hier lauert knallharter Realismus auf den Zuschauer, der in seinen expliziten Szenen so echt wirkt, dass man glaubt einem Snuff-Movie beizuwohnen. Lediglich Tieraufnahmen treffen aufgrund damals fehlender Tierschutzgesetze diesbezüglich zu. Darüber regen sich viele Filmfreunde auf und verurteilen den Streifen dafür, so dass ich nur hoffen kann dass solche Kommentare von Vegetariern kommen, halten sie der Kritik doch sonst nicht stand. Tiere werden hier der Nahrungsaufnahme wegen getötet, und da soll dem Zuschauer ruhig noch einmal bewusst werden was dies tatsächlich bedeutet, wo er sein Schnitzel doch sonst bereits servierfertig auf dem Teller liegen hat.

Tiertötungen gehören mit zu den schwer erträglichen Szenen des Filmes, und sie gehören meiner Meinung nach legitim dazu, ist es u.a. doch ein Film der uns zivilisierten Menschen, die den Bezug zur Natur verloren haben, mit unschönen Bildern bewusst macht was das Motto von fressen und gefressen werden bedeutet. Allerdings ist dies nur ein Nebenaspekt eines Filmes, dem es in Sachen Gesellschaftskritik um etwas völlig anderes geht: um die Dinge hinter dem Vorhang. „Cannibal Holocaust“ (Originaltitel) macht uns die Täuschung der Zivilisation bewusst. Das Tier in uns lebt. Und man kann es nur hinter dem Vorhang heraus lassen. Das Ergebnis dieser Taten bekommen wir in den Medien immer wieder serviert.

Da vögeln in stillen Hotelzimmer Manager ihre 14jährigen Prostituierten, da begeht die ach wie zivilisierte letzte Weltmacht trotz gegenteiliger Abmachung heimlich beim Verhör von Verdächtigen Verbrechen an der Menschheit, und Sexgeile ficken anonym des Nachts im Dunkeln des Parks miteinander, da wo es kaum wer in der Öffentlichkeit mitbekommt. Der Wilde in uns lebt und darf geheuchelt im Alltag der Zivilisation nicht heraus, ein Fakt der sich seit dem Aufkommen der Political Correctness verstärkt hat, wo selbst legitime Triebe als zweifelhaft angesehen werden. In Ruggero Deodatos Film richtet sich dieser Blick hinter dem Vorhang auf die Dokumentarfilmer, die sich als die wahren Wilden des Streifens entpuppen und dem Film damit eine Wende bescheren, die zu schockieren weiß.

Wer geglaubt hat der Streifen ginge bis dahin gnadenlos mit den Sehgewohnheiten des Zuschauers um, der wird das Grauen nun erst so richtig kennenlernen, erkennt er in den Momenten der unübersehbaren Medienkritik doch seine Mitschuld, während er als Voyeur der Geschehnisse sich gar nicht vom Geschehen lösen kann. Welch gerechte Strafe, ein Gedanke der auch die harten Bilder des Streifens legitimiert, die ihm gerne vorgeworfen werden. „Die letzten Kannibalen“ (Alternativtitel) ist kein „Saw“, an dessen Gore-Effekten sich Fans aufzugeilen scheinen. Hier sollen Gore-Effekte das erreichen, was solche Gräueltaten aus gesunder Sicht tatsächlich beim Menschen verursachen sollten: Übelkeit, Unwohlfühlen und ein schlechtes Gewissen noch dazu, weil man sich das Ganze ursprünglich als Freizeitunterhaltung antun wollte.

„Nackt und zerfleischt“ ist ein anklagender, moralischer und kritischer Film. Der deutsche Titel ist reißerischer Natur, aber das passt schon, denn den Vorwurf der Film sei ebenfalls arg reißerisch ausgefallen muss sich Regisseur Deodato gefallen lassen. Spätestens das von Filmpostern bekannte Motiv der gepfählten Frau schießt weit über das Ziel hinaus und erreicht in seiner Übertreibung eine Unglaubwürdigkeit innerhalb einer Thematik in der es zugegebener Maßen schwer fällt objektiv beurteilen zu können was unglaubwürdig ist und was nicht, wenn man fern jeder Kontrolle den Wilden in sich herauslassen könnte.

„Jungle Holocaust“ (Alternativtitel) wird niemanden kalt lassen, egal wie man zu dem Film stehen mag. Er ist eine Extremerfahrung, die selbst Werke wie „Das Experiment“ im Vergleich harmlos erscheinen lassen. Ein harter Magen ist für ein Sichten ebenso Pflicht wie starke Nerven. Und jeder muss für sich selbst entscheiden, ob er sich ein solches Werk antun kann/muss oder nicht. Wer sich selbst eine Lektion bescheren will und dem Grauen tatsächlich ungeschönt ins Auge blicken will, der sollte diesen Schritt gehen. Zumal man Deodato trotz seiner extremen Umsetzung keinesfalls vorwerfen kann ein schlichtes Billigfilmchen zusammengeschustert zu haben. Aufgrund der Aufsplittung seiner Erzählweise und mit dem späten Zuspielen wichtiger Informationen an den Zuschauer ist „Cannibal Holocaust“ psychologisch clever erzählt und damit wohl durchdacht. Das betrifft im übrigen auch den Soundtrack, dessen wunderschöner Hauptsong sich zärtlich sanft über das abscheuliche Geschehen legt.

Mit dem häufigen Anteil an fiktiven Dokumentarszenen wird „Nackt und zerfleischt“ von manchem Halbrecherchierenden auch gerne als Begründer der Found Footage-Welle bezeichnet, die Ende der 90er Jahre mit „The Blair Witch Project“ populär wurde. Mal ganz davon abgesehen, dass Deodatos Werk nur auszugsweise dieser Gattung Film angehört, gebührt die Ehre der Gründung dieser Filmmethode doch ohnehin in Wirklichkeit Rainer Erler, der bereits 1970 (!!!) mit „Die Delegation“ einen Found Footage-Film drehte, der bis auf ein paar Rahmenkommentare abgesehen, die eine echte Fernsehsendung vorgaukeln sollen, komplett im Doku-Stil gedreht ist - und zwar Dokumaterial zeigend, das angeblich gefunden wurde. Klassischer geht Found Footage wohl kaum.

Was man Deodato zu diesem Thema jedoch zugestehen kann, ist das Umgehen der Fehler eines „Der letzte Exorzismus“, „Diary of the Dead“ und Co. Deodato verzichtet zwar auch nicht darauf die pseudo-authentischen Filmszenen künstlisch zu überarbeiten, z.B. indem sie mit Musik untermalt werden, es werden jedoch Begründungen diesbezüglich in die Geschichte mit eingebaut, womit dieses Vorgehen nicht zum Filmfehler wird. Aufgrund seiner extremen Wirkung würde man dies Deodatos Werk aber sicherlich ohnehin nicht vorwerfen wollen.  OFDb

4 Kommentare:

  1. Ich finde es gut, wie unaufgeregt du dich der Materie näherst, weil es sich bei Cannibal Holocaust sicher um einen der kontroversesten Exploitationfilme handelt, der zwar Erkenntnisreichtum schaffen kann, seine vorgeschobene Positivabsicht aber dennoch immer wieder penetriert, perforiert und voll untergräbt. Mich begleitet der Film schon sehr lange und deshalb kann ich davon berichten, wie so ein Werk zunächst aufgrund seines Legendenstatus in der Erstsichtung verwundern, sich dann später aber fortlaufend entwickeln kann. "So ein Skandal ist es jetzt auch nicht..." war mein erster Gedanke als Noch-Teenager, als ich eine immerhin 100 DM günstige VHS-Kassette angesehen habe. Cannibal Holocaust befriedigt halt nich, wie du es auch hervorhebst, sondern der Film wühlt auf. Er ist unbequem. Er kann aber auch das Hirn in Wallung bringen. Damit meine ich weder den Gedanken um die armen Tiere, oder an die Tiersnuff-Parolen von Menschen, denen es dann scheinbar vollkommen egal ist, wie in diesem Streifen mit Menschen und insbesondere Frauen umgegangen wird. Ungeachtet, ob es Deodatos Intention gewesen sein mag, liefert Cannibal Holocaust ein anstößiges Geflecht ethischer Fragwürdigkeiten und kann damit abhängig vom Rezipienten in diesem manigfaltige Denklawinen in Gang setzen, die manchmal auch von der Tagesform abhängen.

    Kürzlich gab es im Dirty Pictures eine kontroverse Ablehnungshaltung bezüglich des Films, die einige interessante Ansichten zu Tage gefördert hat und so auch mich animierte, kurz in mich zu gehen, um noch einmal Revue passieren zu lassen, was diese morbide Faszination von Cannibal Holocaust ausmacht. Die Essenz meines Kommentars war in etwa diese: "[...] Dann [nach der Erstsichtung] war ich auch irgendwie irritiert, weil der Film schon verstörend, mal hart, aber doch auch schleppend und möglicherweise konfus war, was ich aber auch auf die Müdigkeit hätte schieben können. Daß ich mich in den Film dann auf gewisse Art verliebt habe, das habe ich dem Umstand zu verdanken, daß man seiner Zeit noch genießen musste, weil man gar nicht so viel Stoff nachbekam, wie man sich drücken wollte. Ich sah den Film allein, mit Freunden, mit Freundinnen und immer wirkte der Film anders auf mich und auf die anderen Zuschauer. Wollte man sehr weit hinaus, so könnte man die Idylle zu Beginn wie einen Garten Eden empfinden, der dem Verfall ausgeliefert ist, ein Schicksal, welches am Ende allem blüht. Die Kontrastierung wird durch den Reporter ja deutlich betont, wenn es um die Frage der wirklichen Wilden geht, auch wenn Deodato durch die Mechanik seines Films eine Ambivalenz belegt.
    [Wichtig ist, daß] die erzählerische Struktur von Cannibal Holocaust vielschichtig wie eine Zwiebel sein kann. Das gewählte Tempo, die Brüche, die den Zuschauer befangene Ungewissheit und Beklemmung können eigentlich bei einem einzelnen Durchgang gar nicht zur vollen Entfaltung führen. So bin ich durchaus der Ansicht, daß die Motivation der Figuren ausreichend klar wird [das wurde u.a. kritisiert] - letztlich auch durch die Szenen in New York und den Verweis auf vorherige Arbeiten. Darüber hinaus stelle ich mir aber auch die Frage, ob es überhaupt zielführend sein muß, haarklein aufzuschlüsseln, was in der fragmentierten Darstellung vermittelt wird oder nicht. [...] Cannibal Holocaust ist wie eine Meditation über das Menschsein, ein kontroverses moralisches Greuelkabinett der Erkenntnisse, das am Ende niemanden ohne Schuld lässt. Es ist einer dieser Filme, die man daher auch in unterschiedlichen Lebenssituationen immer wieder zu Rate ziehen kann und die einem dann jeweils etwas anderes geben können."

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    1. In diesem Sinne bin ich nun auch gespannt, wie tief sich Cannibal Holocaust in deine Gedankenwelt fressen wird, ob du ihn wiedersehen wirst, neue Gedanken dazu findest. Ich finde jedenfalls, daß es sich vor allem auch um eine bildhafte Ergründung der menschlichen Rohheit handelt, die jeher in uns allen schlummert und die uns darüberhinaus aber auch mit der Frage konfrontiert, ob wir wirklich das sein wollen, oder doch in unserer Hochkultur darüber hinweg gekommen sind. Schlimm finde ich besonders die Momente, in denen diese grausamen Züge abgewandelt in Situationen des täglichen Lebens zu finden sind und die Quasi-Moral von Cannibal Holocaust nur zu deutlich wird. Weit ist unsere Zivilisation auf der einen Hand nicht gekommen und auf der anderen glaube ich doch wieder an das Gute im Menschen, strauchle vielleicht und hoffe nur noch.

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    2. Ich bin da viel pessimistischer, glaube an das Gute im Menschen nur in jenen seltenen Glücksfällen, in welchen jemand in der Lage ist den Alltag und sich selbst zu hinterfragen, ethische Grundprinzipien und eine Rationalität zugleich besitzt und den Wunsch zu sozialem Miteinander in sich trägt. Ein seltener Mix. Und selbst in diesen Menschen schlummert der Wilde. Zivilisation ist Täuschung. Sie ist wichtig um den totalen Zusammenbruch zu verhindern. Aber den meisten Menschen ist dies nicht bewusst, sie halten dieZivilisation für das echte Sein des Menschen, und so zwingen sie sich gegenseitig in Rollenmuster die sie nicht einhalten können, was letztendlich zu einer Entladung in irgendeiner Form führen muss.

      Ich denke übrigens auch, dass man Cannibal Holocaust mehrfach gesehen haben sollte, um ihn richtig verarbeiten zu können. Eine Zweitsichtung ist schon für übernächste Woche geplant, da werde ich ihn mit ein paar Freunden zusammen sichten, die in der Lage sein werden das Anliegen des Films zu erkennen und zu akzeptieren, was viele Halbgebildete in ihrem Tunnelblick-Denken nicht begreifen können: einzusehen dass ein intelektueller Stoff sich auch hinter einer schmuddeligen Fassade verstecken kann.

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    3. Kannst ja mal berichten, was sich da so ergeben hat. :)

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