10.12.2020

WILD (2016)

"Wild" ist ein beeindruckendes Projekt, nüchtern erzählt, wie es der Trumpf deutscher, intellektueller Dramen ist, mutig in vielerlei Belang angegangen und konsequent umgesetzt. Der "Das Herz ist ein dunkler Wald"-Regisseurin Nicolette Krebitz ist ein psychologisch durchdachter Film nach selbstverfasstem Drehbuch gelungen, der lediglich beiläufig am Rande provoziert, anstatt es penetrant darauf anzulegen. Die Provokation ist nicht der Hauptaspekt, dem sich Krebitz verschreibt, und so regt uns das Werk außerdem zum Nachdenken an, während es uns, ähnlich wie "Necrophile Kiss", in eine entrückte Wahrnehmung entführt, die mit dem klassischen Alltag der Masse nicht mehr viel gemein hat. Die Realitätsnähe, unterstützt durch das authentisch nüchterne Flair, welches die unaufgeregte Inszenierung entfacht, macht aus einer interessanten Ausgangslage, deren Umsetzung leicht zu erzählerischen Schwächen hätte führen können, ein bitteres Zeugnis der Anonymität unserer Gesellschaft und lässt uns dankenswerter Weise die interessantesten psychologischen Aspekte der Geschichte selbst entdecken, anstatt sie uns überdeutlich vor die Nase zu setzen. 

Klar, es geht wie erwähnt um die Anonymität, das Verlorensein und mit fortschreitendem Prozess Anjas gar um Verwahrlosung und dem Entrücken der Realität. Viel interessanter sind jedoch die Aspekte, die dem voraus gehen und auf welchen diese Entwicklung überhaupt erst aufbauen konnte. Die hat zum einen lange vor dem Wolf stattgefunden, wenn Anja sich fast schon selbst gewählt ihre Isolation sucht, obwohl sowohl auf der Arbeit, als auch im privaten Bereich Kontakte offenherzig möglich sind. Zwar hat sie ihren wichtigsten sozialen Kontakt durch das Koma ihres Opas verloren, aber man erkennt wie introvertiert sie bereits vor der Verarbeitung dieses bitteren Erlebnisses gewesen ist, und die Linie zwischen Freiwilligkeit der Situation und dem psychologischen Zwang nicht anders handeln zu können ist bei ihr schwer zu erkennen. Zumal die auf der Arbeit keineswegs durch Passivität oder Faulheit auffallende Frau mit dem Auftauchen des Wolfes plötzlich aktiv, kreativ und produktiv wird, Herausforderungen meistert, um ihn zu kontaktieren und einzufangen, sprich aus sich herauskommt, und dafür temporäre Helferkontakte knüpft, ohne dabei eingeschüchtert zu sein. 

Zudem fällt an Anja bereits vor der durch den Wolfskontakt verursachten Verwahrlosung auf, dass sie in ihrer noch halbwegs gesellschaftsfähig entrückten Phase den Kontakt zum Wolf nicht, wie man meinen könnte, bzw. wie es oberflächlich scheint, aus Respekt vor seiner Freiheit, aus Tierliebe und einer Demut heraus sucht, sondern stattdessen ihre Sehnsucht egoistisch auf ihn projiziert und ihn deshalb aus seiner natürlichen Umgebung herausholt und bei sich zu Hause in einem für ihn lebensfeindlichen Umfeld gefangen hält. Alle Nettigkeiten der bewunderten Kreatur gegenüber bauen lediglich auf einer Eigensucht auf, die langsam die Idee entfaltet, ebenfalls wie ein Wolf leben zu wollen. Die Annäherung an den Wolf verdient sie sich trotzdem, und allein dieser schwierig zu erzählende Prozess wird sehr glaubwürdig aufgezeigt. Von nun an begleiten wir Anja durch eine unumkehrbare Katastrophe, in welcher jede Hilfe zu spät kommt. Zwar endet der Film offen, aber da Anja in keiner Gegend endloser Wildnis wohnt, kann man sich ausmalen, wie es um das zukünftige Schicksal der jungen Frau in naher Zukunft bestimmt sein wird. 

Lobenswert an dem großartigen Drehbuch ist neben den bereits benannten Aspekten das gekonnt gezeichnete Umfeld der Protagonistin. Auch dies wird lebensecht dargeboten und zeigt uns Randfiguren auf sehr subtile Art in den verschiedensten Facetten, allen voran den Chef Anjas, der dank einer nicht auf Moral pochenden Geschichte auch dann ein guter Kerl sein kann, wenn, bereits vor dem Durchführen eines angestauten Triebes, ein unterdrücktes sexuelles Interesse an seiner Angestellten zu erkennen ist. Jeder Mensch ist vielseitig, mit seinen Trieben, Gedanken und Taten "gut" und "böse" zugleich, und dementsprechend echt wirken die nicht unwichtigen zwischenmenschlichen Situationen der beiden untereinander, egal wie distanziert sie oft auch stattfinden mögen und wie viel Einfluss sie auf nicht direkt zuzuordnende andere Situationen haben mögen. 

Zwar lebt das herausragende Ergebnis dieses Ausnahmefilmes zu großen Teilen von der Arbeit Krebitz' und ihrer exakt reflektierten Vision, neben der anderen technisch hervorhebenswerten Beteiligten hinter der Kamera muss man jedoch auch das Talent der Mimen hervorheben, allen voran von Hauptdarstellerin Lilith Stangenberg ("Orphea"). Ihr Spiel ist ein gekonnter Mix aus Zurückhaltung und mutiger Darstellung. Gerade die provozierenden Szenen des Streifens überschreiten nicht nur weit die Wohlfühlzone des Zuschauers, sondern deutlich auch jene der Schauspielerin, welche die unangenehmen Herausforderungen brillant meistert, welche das Publikum derart vor den Kopf schlagen. Da das Ergebnis nie reißerischer Natur ist, wie erwähnt frei von Moral über Andersartigkeit berichtet, ohne dabei zum Anwalt einer schockierenden Prozedur zu werden, psychologisch hervorragend durchdacht ist und authentisch umgesetzt (inklusive einer diesbezüglich lobenswert zu nennenden Tierdressur), erlebt man mit "Wild" ein mündiges Drama für ein aufgeschlossenes Publikum andersartiger Filme, das einen nicht kalt lässt, und welches selbst die erschreckenden Momente in nüchterner Art vorträgt, während gleichzeitig eine Empathie über allen Ereignissen schwebt, die stets einen gewissen Grad Verständnis vermittelt.  OFDb

1 Kommentar:

  1. Der war aufrüttelnd ehrlich und in seinen extremen Momenten über die Sehgewohnheiten hinausweisend. Aber eben wirklich großartig inszeniert. Habe den ähnlich gesehen wie du und dazu damals in meiner #52FilmsByWomen Reihe auch ein paar Worte verloren:

    https://stepnwolf.wordpress.com/2016/05/21/r-wild-von-woelfen-und-menschen/

    AntwortenLöschen