07.10.2020

LUFT (2017)

"Luft" ist ein Film, der endlich einmal wieder nah an jenes Niveau heran reicht, welches ich bei deutschen Dramen der letzten Jahre ansonsten vermisse. Subtil, sensibel, empathisch, geduldig und gut reflektierend schleicht er sich auf stillen Sohlen Richtung Ziel. Das scheinbare Nichts an Handlung täuscht, denn so ziemlich jede Tat und jeder Blick der Hauptfigur Manja, ist schon die zu erzählende Geschichte. Sie erlebt die erste Liebe und versucht diese irgendwie auszudrücken, einen Weg zu finden sie zu eröffnen, sie zu leben. Sozial zu ihrem Umfeld der Hochhaus-Siedlung eingestellt, fällt bereits hier auf wie sie eher wortlos zur Stelle ist. Dies nicht rein eines Respekts oder heilenden Daseins wegen, sondern auch einfach deshalb, weil sie als junge Teenagerin nicht genau weiß welche Methoden, Taktiken und Taten wirksam, angebracht und tatsächlich hilfreich sind. Sie strahlt eine, der mangelnden Lebenserfahrung geschulte, Unsicherheit aus, die somit im Gegensatz zur angeblich hohen Selbstsicherheit Louks steht. Und eben weil Manja nie genau weiß wie sie sich verhalten soll und oft eher nach Instinkt handelt oder den sicheren Moment abwartet, ist jene Szene gegen Ende so ungeheuer bedeutend für ihre Entwicklung, in welcher sie Louk zu verstehen gibt, dass sie von hier an alleine weiter muss, um ihr Vorhaben zu erfüllen. 

Aufgrund der sehr informationsarmen, selbst zu entdeckenden, Herangehensweise des Streifens, bin ich mir nicht ganz sicher, ob das Ziel der Befreiung beider Seelen, die etwas zu verarbeiten haben, in einer Tragödie endet, oder in einer lebensbejahenden Befreiung. Auch mit Blick auf den Regie-Kommentar zu einem alternativen Filmende wird dies nicht deutlich, seine gesprochenen Worte hinterlassen dort jedoch den Eindruck, das es absichtlich Auslegungssache bleibt. Wie auch immer, "Luft" ist das typische Beispiel einer Geschichte, bei welcher der Weg das Ziel ist, bei dem jede Mimik etwas zu erzählen hat, jede Reaktion wichtig ist, kurzum jede Nichtigkeit Wichtigkeit wird. Zu derartigen Stoffen muss man einen Zugang besitzen, aber wer dies tut, erlebt aufwühlende Momente der Ungewissheit, der Frustration und der Sinnlichkeit. Wenn es nach wahrlich langer Laufzeit erst zum ersten Kuss kommt, wirkt dieser umso intensiver, so als würde man diesen Moment aktiv selbst miterleben. Ich fühlte mich zurück geschleudert zu einem persönlichen Moment meiner eigenen Vergangenheit, der sich ähnlich intensiv anfühlte, so empathisch und authentisch kommt der Moment treffsicher, zurückhaltend und äußerst sensibel und geduldig inszeniert und harmonisch abfotografiert daher. 

Dass dieser Moment erst so spät ins Geschehen rückt, liegt daran dass "Air" (Alternativtitel) keineswegs vordergründig von der Homosexualität der Protagonisten erzählt, so wie es beispielsweise "Blau ist eine warme Farbe" und "Raus aus Amal" thematisieren. Zwar ist das Erwachen einer Liebe zum gleichen Geschlecht stets Ausgangspunkt aller außer-familiären Ereignisse Manjas, aber diese Homosexualität muss nicht von der Hauptfigur akzeptiert werden, sie muss nicht gegen Vorurteile kämpfen, sich nicht rechtfertigen. Es geht lediglich um Liebe, dass diese lesbischer Natur ist, ist ebenso nebensächlich, wie die Frage ob Louk ab besagtem Punkt nur dankbar sein will, mutig wie sie ist experimentiert, eine Phase durchmacht, oder zur Bi-Sexualität gefunden hat. Das ist alles deswegen nicht vordergründig wichtig, weil bei der Annäherung der beiden Teenager die anderen Aspekte ihres Seelenlebens eine übergeordnete Rolle spielen. Das gemeinsame Verarbeiten von Problemen führt sie letztendlich erst tatsächlich zusammen. Da Louk widerspenstig ist, dauert es, bis das Seelenleben gerade gerückt werden kann (je nach Interpretation des Finales auch lediglich akzeptiert wird für folgenschwere Taten). Auf den Weg dorthin lebt "Luft" definitiv vom Schmachten Manjas, von der Sehnsucht sich Louk irgendwie öffnen zu können, sie zu berühren, Gegengefühle zu erhalten. Das ist ein Motor des Werks - so oder so aber nicht zwingend der homosexuelle Aspekt dieser wunderschön bitteren und träumerischen Liebesgeschichte. 

Dass mir "Luft" nun nicht ganz so zugesagt hat, wie meine Liebhaberstücke deutscher Dramen (an dieser Stelle seinen als Beispiele nur einmal "Delphinsommer", "Die Ausbildung" oder "Die brennende Schnecke" genannt), liegt in Nebensächlichkeiten, die mir, ob gewollt oder nicht von den Verantwortlichen des Streifens, zu stark suggerierten, dass dies ein intellektueller Gefühlsfilm sozialer Natur jenseits des Mainstreams sein soll. Selbstverständlich liebe ich genau diese Eigenschaften an dieser Art Drama, aber sei es der zu penetrante Anteil an Akkordeon-Musik, die fremdsprachige Oma, die gerade in jener Sequenz, in der sie eine Geschichte erzählt, so nüchtern betont, dass es wie aufgesagt klingt, so dass ihre Anwesenheit wie ein zu verkrampfter Griff des immer lobenswerten Ansatzes der Annäherung an uns fremde Kulturen herüber kommt, sowie die optisch eigentlich sehr gelungene Traumsequenz, in welcher eines der Mädchen durch einen dunklen Wald stampft, auf dessen Bäumen ihr bekannte und fremde Menschen sitzen und liegen, ohne dass mir der Film vermitteln konnte was denn die Symbolik aussagen soll und mir somit zu bedeutungsschwanger daher kam (und wieder einmal mit Akkordeonmusik untermalt), all diese, zugegeben strengen, Schwachpunkte schmälern die Wirkung des Stoffes ein wenig, so dass er sein volles Potential nicht auskosten kann. 

In den meisten Szenen tut er dies, vielleicht sollte ich es also besser anders ausdrücken und sagen, dass er sein volles Potential des öfteren unterbricht, so intensiv sich die großen kleinen Momente des Filmes anfühlen. Besonders kritisch fallen diese Worte allein schon deshalb aus, weil "Luft" ein Herzensprojekt ist, das mal äußerst professionell und durchkalkuliert angegangen wurde, wie die frei von Schnitten ausgefallene Sequenz auf der Technoparty deutlich macht, oder eben erwähnte Waldszene, manchmal hingegen improvisiert und aufgrund von Amateuren/Laien (?) authentisch wirkend. So oder so ist Anatol Schusters Langfilm-Debüt stets durchdacht und hintergründig angegangen, die Darstellerwahl ist vortrefflich ausgefallen, gerade auch was die beiden auf natürliche Art schön aussehenden und sympathisch wirkenden Hauptdarstellerinnen betrifft, die auch in ihrem Spiel zu überzeugen wissen, und die Kamera leistet ebenfalls professionelle Arbeit, um jeglichen Gefühlsaspekt, um den es gerade geht, intensiv auf den Zuschauer projizieren zu können. Schön dass es noch Werke dieser Art gibt.  OFDb

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