Als Zehnjährige scheitert Melanie
beim Vorspielen zur Aufnahme am Konservatorium. Die Schuld gibt sie der
unachtsamen Jurorin Ariane, eine professionelle Pianistin. Zehn Jahre
später verwirklicht Melanie ihre Jahre lang geschürten Rachepläne.
Zunächst als Babysitterin bei Ariane eingestellt, erarbeitet sie sich
das Vertrauen der Profimusikerin, bis sie schließlich für sie bei
Konzerten die Notenblätter umblättern darf. Damit wird Melanie zur
wichtigsten Person an Arianes Seite...
Die Geschichte schreit geradezu nach einem Thriller, vielleicht sogar nach einem Horrorfilm. Aber Denis Dercourt, Regisseur des hier besprochenen außergewöhnlichen Filmes, hat etwas ganz anderes im Sinn: ein Drama, unterkühlt, anspruchsvoll und ur-französisch und damit ein Leckerbissen für Cineasten, ein Stück europäisches Kino, weit weg von den Sehgewohnheiten des US-Kinos und vergleichbarem Mainstreams.
„Das Mädchen, das die Seiten umblättert“ lebt von der höchstbeachteten Psychologie, jenem Aspekt den der Großteil der Kinozuschauer mittlerweile vernachlässigt oder gar nicht mehr begreift, ebenso wie Filmschaffende selbst. Damit selektiert er sein Publikum automatisch aus, was elitär klingen mag, aber seinen Zweck erfüllt. Man dankt es Dercourt, wirkt der Film doch selbst wie eine Komposition, still und sensibel inszeniert, von seinen Darstellern auf gleiche Art getragen, fast schon ereignislos wirkend, sollte man die stillen Töne nicht bemerken können.
Déborah Francois schließt sich im Spiel der Rolle der Melanie diesem Prinzip an, spielt fast ohne erkennenswerte Mimik, aber auch eben nur fast. Ganz leicht erkennt man ein angedeutetes Lächeln in ihrer Mimik, die Wut oder die Eifersucht, ein wenig erinnernd an das Spiel Franziska Weisz‘ in dem zwei Jahre zuvor erschienenden „Hotel“. Am offensichtlichsten wird der Kontrast zwischen dem was Melanie fühlt und nach außen tatsächlich darstellt in der ereignisreichsten Szene, in welcher sie dafür sorgt dass ein Cellospieler, der sie begehrt, verletzt wird.
Dies ist die einzig blutige Szene in einer Geschichte die mehr Möglichkeiten dieser Art geboten hätte. Aber Dercourt verschenkt seine cineastische Komposition nie für reißerische Momente, eine gute Entscheidung eines Regisseurs aus einem Lande, das Anspruch gerne mit Provokation verwechselt, siehe hierfür „Meine Mutter“ und „Meine Schwester“.
Melanies Rache wird Schritt für Schritt eingeleitet, verlässt sich bei ihren Vorbereitungen nie auf den Zufall, und dass sich Situationen für den blonden Racheengel so leicht kontrollieren und vorhersehen lassen und dabei niemals unglaubwürdig wirken, liegt an der verstandenen Psychologie des Streifens, denn nichts ist wichtiger als die Figurenzeichnung, und die wird von den Verantwortlichen von „Das Mädchen, das die Seiten umblättert“ auch komplett verstanden.
Das beginnt mit der Belanglosigkeit mit welcher Melanie beim Vorspielen für das Konservatorium scheitert, eine Überraschung für all jene welche die Geschichte vor der ersten Sichtung kannten. War das wirklich so schlimm, was die Pianistin Ariane während des Vorspielens begangen hat? Übertreibt die Kleine nicht ein wenig, wenn sie von nun an nie wieder Klavier spielen wird? Selbstverständlich tut sie es, so wie sie zuvor das Klavierspielen übertrieben hatte, ohne je Verständnis für die Muße der Musik verstanden zu haben, sondern einzig getrieben von der höchstmöglichen Leistung.
Halbe Sachen kommen für Melanie schon als Zehnjährige nicht in Frage. Ein nett gemeinter Spruch des Vaters beim Scheitern auch privat weiter Klavierstunden bezahlen zu wollen, wird von dem leistungsgelenkten Mädchen gar als Beleidigung verstanden. Die Eltern scheinen sie nicht zu drängen, aber der perfekt gemachte Haushalt, im Hintergrund angedeutet durch eine hochglänzende Küche, lässt vermuten dass die innere Anforderung an sich selbst bei Melanie nicht aus dem Nichts entsteht.
Ein solcher Punkt steht still für sich und wird nicht weiter verfolgt. Der Zuschauer soll ihn entdecken oder eben nicht, das ist Dercourt egal. Hauptsache der Zuschauer orientiert sich beim Schauen zunächst an Melanie und sieht mit ihr die Pianistin als den Bösewicht des Filmes an. Und das funktioniert, obwohl wir mitbekommen wie banal das fehlerhafte Verhalten Arianes während des Vorspielens ist, so banal, dass nur ein sehr kranker Charakter zehn Jahre später noch immer auf Rache sinnt. Aber dass Ariane zum Opfer wird, und das Treiben Melanies nicht gerechtfertigt ist, bekommt der Zuschauer mit der Zeit sehr wohl immer deutlicher zu spüren, und muss sich auf der Suche nach einer Identifikationsfigur irgendwann umorientieren.
Ariane, wunderbar unterkühlt und herablassend gespielt von Catherine Frot, entblättert immer mehr ihre zerbrechliche Seite, die ihre zuvor vermutete Arroganz nur als Teil ihrer Unsicherheit offenbart. Und erst wenn dieser Schritt verstanden ist, kann der Zuschauer sich auf ihre Seite stellen und von nun an mit ihr mitleiden, anstatt zur rachsüchtigen Melanie zu halten. Je mehr klar wird welche Ziele Melanie verfolgt, um so mehr Mitleid bekommt man mit Ariane. Ein nüchterner, unbeteiligter Blick auf alle beide, ganz sachlich durch die distanzierte Inszenierung beeinflusst, findet nicht statt, dafür wächst einen Ariane viel zu sehr ans Herz.
Freilich bieten Melanies Pläne mehr als das reine Blamieren der Pianistin während eines Konzertes, verursacht von der Umblätterin der Noten. Und selbst wenn das in französischen Filmen so gerne angegangene Spiel der lesbischen Thematik anklingt, ein Bereich von dem nicht einmal „8 Frauen“ die Finger lassen konnte, verfällt Regisseur Dercourt nie der Versuchung ins Reißerische abzudriften, belässt es bei Andeutungen, die zwar wichtig für die Weiterführung der Geschichte und ihres Ausklangs werden, aber nie selbstzweckhaft oder gar voyeuristisch inszeniert sind, sehr wohl aber sinnlich und unterkühlt zugleich und damit den Ton des kompletten Streifens treffend.
„Das Mädchen, das die Seiten umblättert“ ist ein ganz besonderes Filmerlebnis, sicherlich keine leichte Kost, aber auch nie den Anflug von Langeweile erreichend. Ein großartiger Soundtrack (freilich mit Klaviermusik im Zentrum) untermalt diesen feinfühlig inszenierten und gespielten Film, der in seiner Orientierung immer beim Genre Drama bleibt ohne je zum Thriller zu mutieren. Das ist auch gar nicht nötig, zeigt das Drama doch eiskalt wie Melanie ihre Pläne realisiert, während man als Zuschauer hilflos mit ansehen muss, wie die ahnungslose Ariane sich immer mehr im Netz der Spinne verfängt, gemeiner Weise ein Netz, welches sie bereitwillig, da unwissend, mitspinnt.
Dass Melanie gnadenlos zulässt wie Ariane bereitwillig ihr eigenes Grab schaufelt, zeigt nur um ein weiteres die Leere ihres kranken Charakters, den sie auch nach begangenen Taten in Zukunft nicht weiter füllen können wird. Wer weiß wen sie in ihrem Leben noch alles unglücklich machen wird, das Glück selbst nie kennen gelernt habend. Ihren inneren Frieden wird sie mit Vollendung der Rache nicht finden werden. Dies wird Melanie in naher Zukunft spüren müssen. Auch wenn der Film diesen Prozess nicht mehr zeigt, so bleibt dieser Punkt doch zumindest eine Genugtuung für den Zuschauer, der mit ansehen musste wie eine zerbrechliche Person gnadenlos zerbrochen wurde. OFDb
Der hat mir gut gefallen. Die DVD bekommt man ja öfter mal sehr preiswert. Da sollte eigentlich jeder die Gelegenheit nutzen.
AntwortenLöschenSuper Film - einzige Kritik von mir - am Ende erfährt die Pianistin nicht, wozu das Ganze.
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