04.02.2021

NOVEMBER (2017)

"November" ist ein düsteres Märchen für Erwachsene und ist mit seinen irrwitzigen, phantasiereichen Ideen in künstlerisch wertvollen Bildern zunächst durchaus vergleichbar mit Jeunets Werk "Die Stadt der verlorenen Kinder", trotz Anflügen von Humor jedoch weit bitterer und ernster ausgefallen als dieser. Den Bereich des Horror streift Rainer Sarnets Werk nur leicht, auch wenn im Zusammenhang mit diesem estländischen Film immer wieder von diesem Genre die Rede ist. "November" ist vielmehr ein romantisches Fantasy-Drama der morbiden Art, dabei jedoch nicht ansatzweise so kitschig ausgefallen wie der ebenfalls sehr individuell geratene "Die Jungfrau und das Ungeheuer", aber auch nicht so nah am klassischen Märchenfilm angelehnt, wie das Erwachsenenprodukt "Valerie - Eine Woche voller Wunder". Sarnets Folgefilm nach "Idioot" lässt sich ohnehin nicht mit irgendeinem Film treffsicher vergleichen, er lässt sich in keine Schublade stecken. Unaufgeregt erzählt und doch mit etlichen kunstvollen Schauwerten um sich schmeißend, lässt er seine Geschichte langsam entwickeln, zeigt uns erst sehr spät worauf das Treiben im urigen Dorf überhaupt hinaus will und lenkt uns währenddessen mit derartig grotesken, kreativen und feinsinnigen, wie derben Ideen ab, dass man kaum bemerkt wie nebensächlich der eigentliche Hauptplot überhaupt anmutet und sich erst gegen Ende jenen unübersehbaren Vordergrund der Ereignisse erkämpft, der für eine Hauptgeschichte eigentlich selbstverständlich wäre.

Noch bevor man auch nur halbwegs in die Geschichte eintauchen kann, wird man anfangs von der erstaunlichen Optik des Streifens überrumpelt, die in glasklaren Schwarz/Weiß-gehaltenen Aufnahmen zu beeindrucken weiß. Allein die Aufnahmen des Waldes haben es in sich und entfachen eine Stimmung, die ihresgleichen sucht. Magisch mutet die Atmosphäre des Streifens an, die zwischen amüsant und düster hin und her pendelt, ohne je gruselig oder unheimlich zu wirken. Das mittelalterliche Dorf in Estland ist, passend zur auffälligen Optik, entrückt unserer Realität angelegt. Zauberei ist so Alltag wie der Pfusch mit dieser, so dass man sich nicht einmal hemmt den Teufel persönlich zu betrügen. Damit werden charakterliche Klischees ebenso gebrochen, wie filmtechnische. Die per Marionetten-Animation eingefangenen Aufnahmen der Kratts, welches aus Gegenständen gefertigte Arbeitshelfer sind, denen eine Seele beschert wurde, wirken in ihrer Bewegung und dem Design wie gekonnt animierte Computerillusionen und harmonieren dabei perfekt mit den urigen Elementen des Ortes, der Zeitsetzung und der Erzählung - einschließlich der oftmals sehr alten Darsteller, die meist nicht einfach charismatisch wirksam aufgrund ihrer Langjährigkeit besetzt wurden, sondern auch tatsächlich ausgebildete Schauspieler zu sein scheinen, so hervorragend wie sie zu agieren wissen. Dabei wird des öfteren auf klassisches Theaterschauspiel gesetzt, während Spielort und Inszenierung sich gelegentlich ebenfalls auf diese dem Kino vorangegangene Darbietungsform einlässt. Zudem kommt in "November" immer wieder zwischendurch der Stil eines Stummfilms auf, ohne je mit dem Holzhammer darauf zu verweisen. Dafür ist der Film allgemein zu subtil gehalten, egal ob es um cineastische Vorbilder geht, manch nicht direkt zu erkennenden schwarzen Humors, oder den zarten Anflug möglichen Kitsches.

In seiner langsamen Erzählung, voll von kreativen Einfällen und aufregender Optik, hat "November" einen schnell in seinen Bann gezogen, ohne dass man aufgrund eines gerade aufregenden roten Fadens gespannt am Ball bliebe. Vielmehr fasziniert die Vielschichtigkeit der Erzählung und ihrer relativ vielen Figuren. Inmitten der dichten Atmosphäre und der vielen mystischen Elemente wirken selbst Aspekte magisch und bizarr, die es eigentlich gar nicht sind. Und so sensibel und achtsam man auch empathisch in die einzelnen Figuren eintaucht, so gnadenlos geht das Drehbuch auch gleichzeitig mit ihnen um. Man muss als Zuschauer schon harte Schicksale und große Peinlichkeiten ertragen können, in einem Film der einen nicht in Watte packt, und dies schafft ohne auf Brutalitäten oder anderweitiger Quantitäten der reißerischen Art zurückzugreifen. "November" ist ein künstlerisch wertvolles Liebhaberstück für Cineasten andersartiger laufender Bilder, und ich kann nur jedem raten diesen wundervollen Streifen im Originalton zu sichten, enttäuschte mich nach dem Sichten doch der deutsche Trailer mit weit anders ausgelegten Stimmen, die teilweise sogar mysteriöse Monologe in düsterer, mystischer Tonlage in laut-fröhliches Geschwätz umfunktionierten. Mit derartigen Veränderungen kann der unglaublich stimmige Grundton von "November" selbstverständlich nicht so konsequent eingehalten werden, wie im Originalton geschehen. Die in Deutschland veröffentlichte DVD hält glücklicher Weise einen deutschen Untertitel bereit, um den Film so intensiv erleben zu können, wie von Rainer Sarnet vorgesehen.  OFDb

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