30.08.2020

ANGEL SANCTUARY (2000)

Man stelle sich vor, man wird mitten in eine Seifenoper geschubst und weiß nichts von den Figuren, den Zusammenhängen ihres Miteinanders, ihren Beweggründen und ihren Emotionen. So muss man sich den Einstieg in "Angel Sanctuary" vorstellen, einem OVA-Dreiteiler, der ungekürzt in Deutschland erschienen ist, so dass das schwere Zurechtfinden nichts mit einem Serienzusammenschnitt oder ähnlichem zu tun hat, wie man es z.B. mit "Sisters of Wellber" erleben darf. Ich weiß nicht, ob es eine vorangegangene Serie gibt, oder ob die auf einem Manga basierenden Videoproduktionen sich auf irgendwelche Ausgaben mittendrin bezieht, aber Kenner der Comics werden ihren Vorteil haben, während man als Neuling der Geschichte zunächst einmal nur Bahnhof versteht. Man benötigt einige Zeit um Zusammenhänge, Gesetzmäßigkeiten und Figuren einzuordnen und selbst dann hatte ich das Gefühl selbst am Schluss nicht alles komplett verstanden zu haben. Das offene Ende verwirrt ein wenig, ebenso wie der offene Anfang, dennoch wirkt "Tenshi kinryoku" (Originaltitel) nicht zusammenhanglos oder mittendrin angerissen, es wird in eine spezielle Phase der Geschichte eingetaucht und diese wird zu Ende erzählt, damit die nächste Phase, zu der es zumindest in Deutschland bislang nicht kam, darauf aufbauen kann. 

Vom Zuschauer wird Aufmerksamkeit eingefordert, und belohnt wird er dann, sofern ihm derartige Kost schmeckt, mit einer eigenen Engels- und Dämonen-Mythologie, die eigene Gesetzmäßigkeiten beinhaltet, auf einer erzählenswerten Geschichte fußt, von welcher die hier erzählte nur ein Unterkapitel darstellt, und die stark auf Emotionen setzt, die freilich, typisch kostengünstiges Japan-Produkt, stark im Kitsch verankert ist. Dennoch kann ich "Angel Sanctuary" ein Miteintauchen in die Gefühlswelt des Helden zugestehen. Sein Kampf um eine verbotene Liebe, die im fertigen Werk das Thema Inzucht überraschend frei von Moral und empathisch verzweifelt einfängt, steckt emotional an und bietet einen guten Motor sich für den undurchschaubaren Rest zu interessieren. Kann man erst einmal jedem Mensch seine anders aussehende Engelsgestalt zuordnen, und versteht man inmitten der Engelsmystik die verschiedenen, sich gegenseitig bekämpfenden, Seiten, den Hintergrund und die dazugehörende Position der Dämonen, läuft die Billigproduktion relativ rund. Dann darf man auch den Wandel und damit die innereigenen Zweifel und Täuschungen der Figuren genießen, ihr Ringen um die Wahrheit, ihr schizophrenes Verhältnis zwischen Reinkarnation und Engelscharakter, dem Wahrnehmungskampf um Traumnähe und Wirklichkeit interessiert beiwohnen, sowie dem Eingestehen der Hauptfigur das tun zu müssen, was für viele falsch scheint. 

Wer trotz Kitsch emotional tief eintauchen kann, muss tapfer sein, denn vom Zuschauer wird nicht nur hohe Aufmerksamkeit gefordert, sondern auch ein recht erwachsener Umgang mit der sich teilweise arg naiv und infantil anfühlenden, dennoch nicht minder komplexen, Geschichte, die nicht immer nur glückliche Wendungen kennt, sondern von ihren Figuren auch viel Opferbereitschaft einfordert. Trivialität trifft auf Mehrschichtigkeit, Quantität auf Qualität, Kindisches auf Erwachsenes, Gefühl auf Gewalt, derartiges Widersprüchliches bewerkstelligen nur die Japaner zu einem konsumierbaren Ganzen. Mag "Angel Sanctuary" trotzdem nicht zu jenen Projekten zählen, deren Ergebnis ich als gelungen bezeichnen würde, so ist er doch zumindest ein recht interessantes Produkt geworden, das mich zumindest kurzfristig für seine Gefühlswelt empfänglich machen konnte und definitiv ein spannendes Gesamtgeflecht seiner Mythologie besitzt, aus der sich allerhand weitere Geschichten ernten lassen würden - nicht nur bezogen auf die Abenteuer jener Figuren, die wir mit diesem Dreiteiler, der sich zusammengesetzt auf Spielfilmlänge guckt, kennen lernen.  OFDb

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